16. Wandertag
"Irgendwo, oben in den Bergen" nach Carchelejo
8h / 31km
1.086m hoch / 1.365m runter
Das hier war eigentlich früher mal eine Angstetappe; weil lang, mit vielen Höhenmetern und ohne richtige Übernachtungsmöglichkeiten. Durch die Shuttle-Arie von gestern ist die heutige Etappe aber zu einem der schönsten Tage bisher geworden. Vor allem wegen der tollen Landschaft mit ihren tiefen stillen Bergtälern, den schroffen Felsformationen und natürlich -- dem ausbleibenden Regen!
Aber von vorne.
Loslaufen unter den mißtrauischen Augen der lokalen Schafherde. Es ist relativ kühl und windig, vielleicht so um die 8°. Die Gipfel der Berge, zwischen denen ich heute unterwegs sein werde, sind in Wolken gehüllt; durch den Dunst höre ich die Armada an Windkraftanlagen surren, die irgendwo weiter oben am Hang stehen.
Auf einer alten Schotterstraße steige ich auf 1.200m hinaus, vorbei an verlassenen und verfallenen Bergbauernhöfen, von denen meistens nur noch ein paar Mauerecken stehen und deren eingefallene Wände preisgeben, daß sie im Wesentlichen aus genau den Steinen gebaut wurden, die hier vorher schon rumlagen. Jetzt liegen sie wieder rum, ob aber jemand jemals wieder ein Haus daraus bauen wird, halte ich für fraglich.
Keuchend steige ich zum Paß auf, der halb in den Wolken liegt. Mit 1.500m bisher der höchste Punkt der Tour. Oben erwartet mich ein ungemütliches Brausen aus Wind, Regen und Wetter. Vorsichtig luge ich den Hang auf der anderen Seite hinunter: Hier soll der Wanderweg runtergehen? Viel zu steil, viel zu rutschig, viel zu gefährlich. Ich konsultiere mein GPS, finde einen alternativen Umweg, der mich laut Karte in einem größeren Schwung runter ins Tal führt. Und siehe da, ein paar hundert Meter hat sich auch das Markierungsteam des GR-7 eines Besseren besinnt, den in der Karte verzeichneten megasteilen Abstieg ignoriert und den entspannteren Ziehweg gewählt. Beschwingt mache ich mich an den Abstieg, pfeife 10 Minuten später auf die nach links abknickenden Wegmarkierungen und ---
-- der Murks geht los. Ich verlaufe mich auf den sich zigfachen kreuzenden Schafspfaden, kämpfe mich halbverdrossen wieder zum vermeintlich richtigen Weg durch, der kurz darauf nicht nur vor einem Stacheldrahtzaun endet, sondern hinter demselben auch sichtbar komplett mit Gestrüpp zugewuchert ist. Ich reiße mich zusammen, steige wieder bergauf bis zur letzten Wegmarkierung und habe somit erstmal eine Stunde damit verbracht, im Kreis zu laufen.
Der Abstieg ist steil und quer durch den Hang markiert. Ich verbringe viel Zeit damit, immer wieder inne zu halten und sorgfältig nach der nächsten Markierung zu suchen, um wenigstens einigermaßen auf Kurs zu bleiben. Endlich unten im Tal angekommen, wartet erstmal eine Ziegenherde darauf, sich von mir erschrecken zu lassen. Können sie gerne haben.
Für mich beginnt damit der entspannteste Teil des Tages. Für die nächsten Stunden folge ich einem stillen Tal, der Weg geht leicht bergab, also ist "Hände in die Hosentaschen" angesagt. Der erste Bauernhof ist noch bewirtschaftet, ich winke dem Schäfer, der gerade seine Ziegen sortiert, aus der Ferne zu und ernte einen entsprechenden Gruß. Danach sehe ich für die nächsten Stunden nichts und niemanden. Einige leer stehende Gehöfte, höchstens noch im Sommer als Ferienhaus genutzt, verlassene Häuser, Ruinen, Spuren von früherer landwirtschaftlicher Nutzung.
Alles in allem entspanntes Laufen, leicht bergab. Zur Mittagspause kommt für 3 Minuten die Sonne raus, sofort stehe ich auf, stelle mich wie ein verzweifeltes Stadtkind ins Licht und lasse mich aufwärmen.
Während der Stunden in diesem Tal wächst der kleine Quellbach links von mir zu einem veritablen, lärmenden, brodelnden, schäumenden Bergbach an, der sich so deutlich Gehör verschafft wie ein Teenager in der Pubertät. Als ich das erste Mal nach Stunden links abbiegen muß (und auch nach Karte klar ist, daß ich diesen inzwischen reißenden Bach auch gleich überqueren werde), freue ich mich erst über das Straßenschild, das offensichtlich eine Brücke anzeigt -- nur um kurz darauf festzustellen, daß da wohl eine Schraube fehlte, sich das dreieckige Schild daher um 180° gedreht hat und ich statt dessen vor einer fetten überfluteten Furt stehe. Sieht süß aus, die Strömung ist allerdings relativ knackig.
Wie ich da umher streife und mir überlege, wie ich da am besten rüberkomme, fallen mir am Ufer wieder diese Fußabdrücke auf. Schon den ganzen Tag über habe ich im Matsch immer wieder Abdrücke von Stiefeln und Wanderstöcken gesehen. Der Fährtenleser in mir ist sich sicher, daß hier entweder gestern oder heute ein anderer Wanderer durchgekommen sein muß, ansonsten wären die Spuren von den Regenfällen der vergangenen Tage verwischt.
Letztendlich bleibt für die Überquerung der Furt nur die klassische Variante "Stiefel ausziehen". Ich lasse den Rucksack erstmal am Ufer stehen und erkunde vorsichtig und barfüßig die Furt. Geht bis kurz vor die Knie, ist aber trotz der kräftigen Strömung machbar. Als ich mir gerade wieder den Rucksack aufwuchte und mich für die richtige Überquerung bereitmachen will, kommt plötzlich ein junger Bursche mit seinem Pick-Up um die Ecke und will sowieso durch den Fluß fahren. Ich zucke nicht lange, werfe meinen Rucksack auf die Rückbank und mich auf den Beifahrersitz und überquere sicher und ohne kalte Füße den Fluß. Dauerte nur einen Wimpernschlag. Als kleines Dankeschön springe ich auf der anderen Seite - weil ich sowieso schon barfuß bin - aus dem Auto und öffne den Zaun, der dort den Weg versperrt. So haben wir beide was davon: Ich bin sicher über den Fluß und der Landwirtschaftsprofi musste sich nicht die Füße naß machen, um den Zaun zu öffnen. Wir winken zum Abschied und schon ist der Wagen wieder auf und davon -- und ich wieder alleine im Tal.
Zwei Kurven weiter tauche ich in das nächste Abenteuer ein. Ein schmaler Pfad führt in ein wildes felsiges Seitental, an dessen Ende ein knackiger 600m-Aufstieg auf mich wartet. Unten im Talgrund gibt es freundlicherweise eine kleine, roh gezimmerte Brücke über den Fluß, danach investiere ich eine gute Stunde Schweiß, Herzrasen und Kampf in Höhengewinn, Aussicht und Staunen über diese unwirklichen Eindrücke. Die Felswände wirken, als hätten irgendwelche Wesen aus den Steinen riesige Festungen geformt, samt Türmen und Mauern. Der Wind zerrt hier oben hart an meinem Rucksack, aber mit jedem erkämpften Höhenmeter steigt auch der Pegel an Aussicht, Stolz und Freude an diesem grandiosen Tag und dieser großartigen Landschaft.
Auf 1.500m angekommen, schwenkt der halsbrecherische Pfad plötzlich ganz unschuldig in das nächste kleine Tal ein, unvermittelt stehe ich auf einem kleinen Paß und dahinter öffnet sich der Blick auf sanft gewellte Hügel mit Olivenbäumen, sonnenbeschienene Hänge, eine Ziegenherde, die gerade den abendlichen Heimweg zu ihren Ställen antritt.
Es ist spät geworden, schon gegen 18:00 Uhr, und ich habe noch diverse Kilometer zu laufen. Ich entscheide mich für die Betonpiste runter nach Carchelejo, statt mich noch durch den Matsch der nächsten Olivenberge zu quälen. Der Abstieg ist lang und zieht sich, meine Knie fangen zum ersten Mal auf dieser Reise an zu schmerzen.
Die letzte Stunde runter ins Dorf stellt sich ein stechender Schmerz in beiden Knien ein, den ich erstmal ignorieren muß. Meine blind gebuchte Übernachtung für heute Abend entpuppt sich als super-freundliches Bed&Breakfast eines englischen Ehepaars. Ich beziehe großzügige Räumlichkeiten, außer einem Schlafzimmer habe ich auch ein Badezimmer zur Verfügung, das seltsamerweise mit Teppichboden, einem Sofa und einem Schreibtisch aufwarten kann.
Ich dusche lange und sehr heiß, habe danach allerdings Schwierigkeiten, aus der Wanne zu steigen. Naja, bisher hatte ich meine Knie nicht als Troublemaker auf der Liste. Mal sehen, ob sich das gerade ändert.
Statt mich in die Bar zu quälen, taste ich mich wie ein alter Mann die Treppe hinunter und trinke ich mit meinen Vermietern Rob & Ellen noch diverse Biere auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Dabei bestätigt sich mein Verdacht von vorhin: Es ist tatsächlich ein weiterer Langstreckenwanderer genau 1 Tagesreise vor mir unterwegs. Gestern Abend hat er auch hier in diesem B&B übernachtet, wie mir meine Vermieter bestätigen. Aus Deutschland. Mal sehen, ob ich den Herren in den nächsten Tagen noch einholen kann.
Ich pfeife erstaunlicherweise auf Abendessen (viel zu anstrengend!) und werfe mich gegen 21:30 Uhr glücklich ins Bett.
Was für ein großartiger Tag. All der Frust und Zorn auf das Wetter der letzten Tage ist mir einem Mal wie weggeblasen. So schnell kann's gehen...