Donnerstag, 3. Mai 2018

Ganz oder gar nicht.

Sonntag, 29.04.2018
26. Wandertag
La Matea nach Pedro Andrés
6h / 25km 
620m hoch / 699m runter

Bei der Planung des heutigen Tages bin ich auf volles Risiko gegangen. Warum? Weil der eigentliche GR-7 heute fast den ganzen Tag und über 30km auf der Straße bis nach Puebla de Don Fadrique im Süden führt (wo ich nie hinwollte), um dann morgen nach einer Tagesetappe Richtung Osten in Canada de la Cruz zu enden, wo man nicht übernachten kann (was wenig Sinn macht) und dann am Ende übermorgen wieder stramm nordwärts in Richtung Nerpio/El Sabinar zu führen. Mit einem Satz gesagt: Das sieht auf der Karte auf den ersten Blick nach einem richtig doofen Umweg aus und ist wahrscheinlich einzig und alleine der Tatsache geschuldet, daß der andalusische Wanderverein nun mal beschlossen hat, daß der GR-7 in Andalusien bitte in Puebla de Don Fadrique enden soll und nicht irgendwo im Nirgendwo. Was dann die Kollegen der Region Murcia in puncto weiterer Wegführung daraus machen, ist ja ihre Sache.

Jedenfalls hatte sich bei der Planung angesichts dieser abenteuerlichen Streckenführung sofort mein Sinn für Optimierung gemeldet und laut gerufen: Warte mal, das geht doch auch anders. Vielleicht sogar besser. Und so kam die heutige selbstgebastelte Etappe zustande, die den vorgegebenen GR-7 offensiv ignoriert und durch ein anderes Tal weiter nördlich einen deutlich direkteren Weg nimmt. Und dabei am Ende sogar einen ganzen Tag schneller ist. Einziger Haken: Damit diese Planung funktioniert (auf der immerhin 3 Tagesetappen aufbauen), muß ich heute diesen-einen-Berg-da-vorne besteigen. Querfeldein. Nen richtigen Weg hoch gibt’s nicht, die einzige Straße da hin macht einen Umweg über 20km. Und hinter dem Berg komme ich in das andere Tal und weiter Richtung Nerpio/El Sabinar.

Was habe ich diesen Berg auf der Karte betrachtet und seine Höhenlinien studiert. Wie oft habe ich ihn bei Google Maps hin- und hergedreht und mich gefragt: Kommt man da hoch? Komme ich da rüber? Ist der Hang nicht zu steil? Heute werde ich es erfahren. Wenn nicht, kann ich mich an die Straße stellen und mein Glück mit Trampen versuchen. Dann schnurrt allerdings die Planung der nächsten Tage mal eben galant in sich zusammen.


Also früh raus, in einen eiskalten Morgen. Über Nacht hat es in den Bergen wieder geschneit, ich sehe die frisch geweißten Spitzen der Berge, die gestern noch ganz unschuldig in der Sonne lagen. Der Wind pfeift von hinten und zum ersten Mal seit Langem habe ich mir meine einzige lange Hose angezogen, weil selbst mir heute die Shorts zu kalt sind.

Über einen verschlungenen Camino oberhalb der Straße laufe ich Richtung Osten, das bißchen Regen von letzter Nacht hat ausgereicht, um die oberste Schicht Schlamm auf den Wegen wieder schön matschig werden zu lassen. Ungewohnt... Wolken und Sonne wechseln sich ab in einem Takt, der vom Wind vorgegeben wird.




Das isser, der Berg. Nach dem malerischen Schotterweg in der linken Bildhälfte fällt das Gelände steil ab in die Schlucht des Rio Zumeta, um auf der anderen Seite wieder steil und felsig aufzusteigen (das hab ich nazürlich blöderweise nicht auf dem Bild...). Unter den steilen Felswänden stoße ich auf Cortijada de Las Cuevas, eine kleine Siedlung aus Häusern, die direkt an und in den Berg hineingebaut wurden. Größtenteils verlassen und verfallen, ohne Straßenanbindung - allerdings gibt es noch ein einziges Haus, das durch seinen rauchenden Schornstein und die frisch gekalkten Wände anzeigt, daß hier doch noch jemand wohnt.


Während ich so durch die Ruinen streife, treffe ich plötzlich auf einen freundlichen Typen in meinem Alter, der sich als der einzige Bewohner des Dorfes entpuppt. Wir unterhalten uns ein Stück auf Englisch, ich erfahre, daß er schon seit 20 Jahren hier wohnt und sich ganz bewußt für dieses zurückgezogene Leben entschieden hat.
Ich mache mich (neugierig beäugt von einem seiner Hunde) daran, den Rio Zumeta zu überqueren. Das Wasser ist eiskalt und geht mir weit bis über die Knie. Ich habe mir mal wieder die blödeste Stelle zum Furten rausgesucht und nicht bedacht, daß ich am anderen Ende ja nicht nur irgendwie aus dem Fluß rauskommen muß, sondern darüber hinaus auch noch den Hang hochwill. Also lande ich erstmal in einer Dornendickicht-Sackgasse. Anfängerfehler. Ich verfluche meine mangelnde Weitsicht, gehe wieder ins Wasser und ein paar Meter flußabwärts und bin drüben/raus. Mit dieser Flußüberquerung habe ich nebenbei auch mal schnell Andalusien verlassen, nach 4 Wochen Weg, die andere Seite gehört schon zu Kastilien-La Mancha.

Auf, den Hang hoch. Ich finde einen kleinen Ziegenpfad, der mich das erste Stück aus dem steilen Tal herausführt. Nach einer halben Stunde Aufstieg bin ich aus dem Gröbsten raus, das Gelände wird etwas flacher und ich schaue zurück auf das Höhlendorf. Vor seinem Haus steht der letzte Bewohner und winkt mir zu, ich winke zurück und mir entgleitet dabei ein Schrei des Stolzes und der Erleichterung – ein schöner Moment. Das Gröbste ist geschafft.
Blick zurück auf das weite Tal unterhalb von Santiago. Und auch Blick zurück nach Andalusien.

Die nächsten zwei Stunden verbringe ich damit, mir mal auf Ziegenpfaden, mal querfeldein, einen Weg über diese Anhöhe zu suchen. Das funktioniert eigentlich recht gut, wenn man einfach seinem Bauchgefühl folgt. Das GPS leistet mir dabei gute Dienste, ich kann mich immer wieder rückversichern, daß ich noch auf dem richtigen Kurs bin. Keine Ahnung, ob ich mir diese Aktion zugetraut hätte, wenn ich nur mit Wanderkarte unterwegs gewesen wäre. Vielleicht nicht, auch trotz meiner 30 Jahre Erfahrung.

Mitte: Santiago de la Espada. Über die Berge links davon bin ich gestern angewandert gekommen.

Mit dem Aufstieg weitet sich auch die Aussicht auf das Tal, links erkenne ich La Matea, gegenüber Santiago de la Espada, dazwischen Felder und vom Wind gepeitschte Wolken. Das Gelände um mich herum wird steiniger, alpiner und auf 1.500 Metern – kurz vor der Kuppe – peitscht mich wieder der Wind und hat Schnee mitgebracht.


20 Minuten später treffe ich auf die Straße (oder auf das, was von ihr übrig ist), feiere innerlich, daß ich die komplizierten letzten Stunden Weg gemeistert habe. Ab jetzt geht’s für den Rest des Tages nur noch auf breiten Wegen dieses Tal hier entlang.

Landschaftlich ist das hier zunächst erstmal ein Trauerspiel. Fader Himmel, triste Bauernhöfe, die nach Verzweiflung und Verfall riechen. Aber das hatte ich schon geahnt, als ich mir dieses Tal vorab bei der Recherche im Netz angesehen hatte. Dazu servieren die Wolken Graupelschauer, ich ziehe meine Jacke an, klappe die Kapuze hoch und ergebe mich meinem Schicksal.



Zwei Stunden später allerdings dreht sich das Bild unerwarteterweise. Die Sonne kommt raus, die Landschaft wird bergiger, felsiger, aussichtiger, spektakulärer. Ich steige gemächlich auf einer komplett leeren Landstraße das Tal hinab. Ständig muß ich irgendwelche Fotos mit dem goldgelb blühendem Ginster am Straßenrand machen, die Berge und Täler erinnern mich ein bißchen an Westernkulissen und in meinem Gesicht manifestiert sich langsam ein zufriedenes Lächeln.


Die Flaniermeile von Pedro Andrés.
Nachdem ich heute Vormittag noch nicht wußte, wie der Tag wohl ausgehen mag bzw. wo ich überhaupt landen würde, hatte ich mir für heute Abend keine Übernachtung reserviert. Ich hatte allerdings herausgefunden, daß es im ersten nennenswerten Dorf im Tal (Pedro Andrés) ein Hostal geben soll und tatsächlich, das Hostal-Restaurante Taibilla existiert, ist geöffnet und willens, mir ein Zimmer für die Nacht zu vermieten. 20 EUR. Das Zimmer ist winzig, aber die Zentralheizung bollert auf mein Verlangen hin sofort los, unten in der Bar regiert ein freundlich/familiärer Tonfall und es gibt ein leckeres Abendessen (Hühnersuppe, Salat, krosses Brot, Schweinebacken mit gebratenen Pimientos und Patatas fritas, Käsekuchen-Nachtisch und ein Getränk. 10 EUR).

Ich runde den Abend mit ein paar zusätzlichen Belohnungsbieren ab und entere mein Bett mit dem stolzen Gefühl, heute für mich selber gesorgt zu haben.

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